Dr. Vandana Shiva:

 "Die Infrastruktur der Gier zerstört die Infrastruktur des Lebens"

13 Juni 2021 21:02 Uhr

Dr. Vandana Shiva setzt sich weltweit für soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Artenvielfalt ein. Mit ihrer Organisation "Navdanya" wirbt sie für eine giftfreie Landwirtschaft. Darüber und über den Zusammenhang zwischen Corona und dem Überschreiten ökologischer Grenzen spricht sie mit RT DE.  Quelle: Reuters © Gustau Nacarino  Dr. Vandana Shiva (Archivbild)  Dr. Vandana Shiva ist eine indische Physikerin, die sich für soziale Gerechtigkeit und den Schutz der Artenvielfalt weltweit einsetzt. Als Präsidentin der 1991 gegründeten Organisation Navdanya wirbt sie international für eine giftfreie Landwirtschaft. Für ihr Engagement für die Artenvielfalt, für Nahrungssouveränität und die internationale Vernetzung von Frauen gegen Patente auf Leben erhielt sie 1993 den alternativen Nobelpreis. Im Interview berichtet sie über die aktuelle Lage in Indien und über den Zusammenhang zwischen mechanistischem Naturverständnis und menschlicher Gesundheit.  Dr. Shiva, vielen Dank, dass Sie uns die Möglichkeit geben, von Ihnen aus erster Hand über die gesundheitliche und wirtschaftliche Situation in Indien zu erfahren! In den letzten Wochen wurde in den westlichen Medien viel über die Lage in Indien berichtet. Haben Sie Vorschläge, wie man Ihrem Land international helfen könnte? Wir möchten Ihre Bewertung hören und besonders interessiert uns auch das Engagement der von ihnen gegründeten Organisation Navdanya in der aktuellen Situation.   Angespannte Corona-Lage in Indien – mehr als 300.000 Testpositive an einem Tag In Indien waren wir von der Pandemie zunächst weniger medizinisch betroffen, sondern vielmehr auf brutale Weise wirtschaftlich. Der Lockdown wurde bei uns mit vier Stunden Vorlauf mitten in der Nacht angekündigt. Über 400 Millionen Leute verloren über Nacht ihre Lebensgrundlage. Es gab eine riesige Rückwanderungsbewegung. Frauen mit Säuglingen auf dem Arm liefen 1.200 Meilen über Land.  

Dabei erleben wir nicht nur den Ansturm der Pandemie, sondern dazu auch noch multiple Stürme und Zyklone, sogar im karibischen Ozean, wo es bisher noch nie einen Zyklon gab. Nach meiner Einschätzung haben die Pandemie und die Klimakatastrophe die gleichen Wurzeln – und dabei spielt der Ursprung des Virus überhaupt keine Rolle. Es geht darum, dass auf unserem Planeten ökologische Grenzen verletzt werden. Die Erde ist ein lebender Organismus, den der ehemalige NASA-Wissenschaftler James Lovelock als Gaia bezeichnete. So wie ein gesunder menschlicher Körper seine Temperatur regulieren kann, seinen Sauerstoffverbrauch und seinen Stoffwechsel, so kann normalerweise auch die Erde ihre Temperaturverhältnisse und ihr Klima regulieren.

Bei Krankheiten geht es um eine Disharmonie der Naturgesetze auf der Erde und diese Naturgesetze betreffen auch unseren Körper. Aufgrund ihres mechanistischen Denkens halten viele Menschen die Erde für eine Maschine und in uns Menschen sehen sie Maschinenteile. Dieses Denken führt zu einem Verhalten, durch das viele Probleme geschaffen werden, welche dann wiederum technologisch gelöst werden sollen, wodurch aber nur wieder neue Probleme entstehen.

   Die Klimakatastrophe und die Pandemie sind die Folgen von Verletzung der ökologischen Grenzen und der Zerstörung der Wälder. Die Landoberfläche der Erde besteht zu 80 Prozent aus Wäldern, die lange Zeit von den darin lebenden Kulturvölkern geschützt wurden. Aufgrund unserer Gesetze zum Schutz der indigenen Völker sollten wir sie erhalten. Wir müssen anerkennen, dass sie beim Erhalt der Stabilität des Sauerstoffs und der Böden eine wichtige Rolle spielen. Schon vor fünf Jahrzehnten lernte ich von den indigenen Chipko-Frauen, dass die Probleme der mechanistischen Sichtweise entspringen und in der kommerziellen Ausbeutung der Natur. Die Chipkos sehen in den Wäldern die Quellen von Wasser, Sauerstoff und Boden, und dies sind die Quellen des Lebens.

Doch die Infrastruktur der Gier zerstört die Infrastruktur des Lebens! Durch die Überschreitung von ökologischen Grenzen erschaffen wir die unterschiedlichsten Pandemien selbst. Sogar die Vereinten Nationen haben zugegeben, dass man nur ein Symptom behandelt, wenn man die Pandemie nur als ein medizinisches Problem betrachtet.

Verbotene Pestizide: Profite vor Menschenleben – wo sie weniger wert sind Interessanterweise handelt es sich bei der Pandemie um eine Lungenkrankheit. Die Betroffenen sterben an Sauerstoffmangel. Ich denke dabei an meine Chipko-Schwestern, die immer wieder sagten, dass Sauerstoff die Grundlage allen Lebens ist und von den Wäldern hervorgebracht wird, die wir zerstören. Ich beobachte auch, dass die Krankheit umso schlimmer ist, je mehr chronische Krankheiten der Mensch bereits hat. Über chronische Krankheiten hat Navdanya das Manifest "Food and Health geschrieben" – Nahrung und Gesundheit.    Sie haben auch gefragt, wie man dem Land Indien helfen könnte. Die beste Hilfe besteht für mich darin, dass alle, die uns zuhören, den Zusammenhang der Probleme begreifen. Es gibt eine große Mafia, die unsere Wirtschaft mit Fake Food zerstören möchte. Darüber haben wir in der Schrift "Gates to a global Empire" berichtet. Auch mein neues Buch "ONENESS vs the 1 %" (In Einheit gegenüber dem einen Prozent) handelt davon. Es wird in Kürze auch auf Deutsch erscheinen. Milliardäre betrachten Fake Food als Lösung des Klimawandels und verschlimmern dadurch das Problem. Diese Milliardäre schaffen genauso wie die Kolonialisten ihre eigenen Regeln und Gesetze, die sie allen aufzwingen, anstatt dass die betroffenen Menschen selbst die Lösungen finden.  Welche Vorstellung hat Navdanya konkret von einem gesunden Leben? Welche wichtigen Schritte sind dazu nötig?

Bei einem gesunden Leben werden nicht so viel Müll und Umweltverschmutzung verursacht und nicht all die Pestizide und das Plastik, die aus fossilem Öl produziert werden. Bei einem gesunden Leben braucht man keine Nahrungsproduktion, in die vorher 10 Energieeinheiten investiert werden, um dann eine Energieeinheit eines schlechten Nahrungsmittels zu erhalten.

Bei lebenden Systemen besteht Gesundheit immer auch in Selbstorganisation, in der eigenständigen Balance ihres Stoffwechsels. Alle lebenden Systeme haben das Potenzial zur Homöostase, sie können nach Störungen ihr Gleichgewicht wieder finden. Wenn ein Mensch krank ist und sich richtig verhält, kehrt der Organismus wieder ins Gleichgewicht zurück.

Studie: Jedes Jahr vergiften sich weltweit 385 Millionen Menschen durch Pestizide Für ein gesundes Leben müssen wir anerkennen, dass die Erde mit frischen, biologisch angebauten Lebensmitteln die Grundlage für unser Gesundsein schafft. Stattdessen haben wir unsere Körper mit Junk Food betrogen. Darin liegt die Ursache für unsere chronischen Krankheiten. Und ausgerechnet die Milliardäre, die mit der Vergiftung unserer Nahrungsmittel reich geworden sind, wollen als nächstes Fake Food produzieren.    Sie haben eine industrielle Landwirtschaft geschaffen, in der sie Kühe in Fabriken mit Sojabohnen füttern und dann behaupten, dass sie die Produktionsfläche verringert haben. In Wahrheit verbrauchen sie mit dem Anbau von Sojatierfutter sieben Mal so viel Fläche, einschließlich der dafür durchgeführten Brandrodung des Amazonas. Als Neuestes entwickeln sie die zelluläre Landwirtschaft. Eigentlich steckt im Wort Landwirtschaft das Wort Land. Deshalb ist die Isolierung und Fütterung von Zellen im Labor, die sogenannte zelluläre Landwirtschaft, überhaupt keine Landwirtschaft. Es findet immer mehr Selbstbetrug statt.

Für ein gesundes Leben müssen wir die Artenvielfalt erhalten und uns im Außen darum kümmern: Keine Gifte einsetzen, keine Monokulturen anbauen. Für die Gesundheit brauchen wir die Biodiversität in unserem Körper und die Biodiversität in unserer Außenwelt. Dazu gehört auch, dass wir unseren Darm und die biologische Darmflora mit ihren Mikroben respektieren. Dass wir sie nicht länger verletzten, indem wir uns von Milliardären betrügen lassen. Wir müssen auf unseren Körper hören und auf unseren unabhängigen Geist. Biodiversität ist eine gewaltfreie, liebende Beziehung zu Dir selbst und zur Umwelt und jegliche Gewalt wird sie zerstören.

Gewalt Nr. 1 ist der Einsatz von Chemikalien, die die Organismen in den Böden verletzen.

Gewalt Nr. 2 besteht in der Zerstörung der Bienenvölker.

Gewalt Nr. 3 besteht darin, den hart arbeitenden Bauern ihre Lebensgrundlage zu nehmen.

Gewalt Nr. 4 richtet sich gegen die Organismen, die uns mit guter Nahrung versorgen. Wir vernichten sie chemisch und mit ökonomischen Mitteln.

Gewalt Nr. 5 richtet sich gegen unser eigenes Mikrobiom. Es steht in Zusammenhang mit dem zerstörten Mikrobiom der Böden.

Grundsätzlich müssen wir Gesundheit viel ganzheitlicher betrachten!

Wie trägt Navdanya zur Verbesserung der Gesundheitssituation bei und welche wichtigen Themen müssen dabei gelöst werden?   Interner Bericht bei Nestlé: Mehr als die Hälfte verpackter Produkte des Unternehmens "nicht gesund" Das Wort "Navdanya" bedeutet sowohl "neun Samen" als auch "neues Geschenk". Die großen Konzerne wollen das Saatgut patentieren und die Nahrungsmittelproduktion auf wenige von ihnen patentierte Saaten reduzieren. Dazu gehören Mais, Soja, Raps. Sogar für die Produktion des sogenannten zellulären Fleischs werden gentechnisch modifizierte Sojabohnen verwendet. Und der deutsche Bayer-Konzern, vorher war das Monsanto, stellte fest, dass er perfekt zu dieser neuen Industrie passe, denn er könne als einziger das Rohmaterial herstellen. Doch Navdanya sagt dazu:    "Verzeihung, aber unser Saatgut ist nicht Eurer Rohmaterial! Unser Saatgut ist souverän! Unsere Bauern sind souverän! Und wir reklamieren das Saatgut als Allmende! Deshalb heißt es 'Neues Geschenk'."

Als ich 1987 die Navdanya-Bewegung gründete, behaupteten die Chemiekonzerne: "Jetzt gehört das Saatgut uns, wir haben es patentiert." Schon damals sagte ich: "Nein, das ist nicht richtig." Und genauso, wie sie jetzt versuchen, zelluläre Landwirtschaft als Landwirtschaft zu definieren, versuchten sie damals, Saatgut als Maschinen zu definieren. Aber Saatgut ist keine Maschine, es ist ein lebendiges System. Das zu vermitteln, darin besteht seitdem meine Arbeit.

Nahrungsmittel dienen der Ernährung und sind keine Handelsware. Man kann die Menge des Soja-Anbaus immer weiter ausbauen und dennoch hungert eine Milliarde Menschen, und der Rest wird krank. Heutzutage werden noch immer 80 Prozent der Welternährung von Kleinbauern produziert. Aber der 20-prozentige Anteil der industriellen Landwirtschaft hat bereits 75 Prozent der Böden zerstört und 75 Prozent unserer Gesundheit. Wenn dieser Anteil auf 30 Prozent anwächst, wird unser Planet tot sein und die Menschen tot und krank. Das hat die Pandemie uns gezeigt.

Haben Sie eine Botschaft für unsere Leser in Deutschland?

Ich möchte den Lesern in Deutschland sagen: Passt auf! Damals hattet Ihr Hitler und jetzt habt Ihr Bayer! Lasst nicht zu, dass Bayer Eure unsichtbare Regierung wird. Setzt Euch ein für die Artenvielfalt, setzt Euch ein für die biologische Landwirtschaft und sorgt dafür, dass wir nicht in die Tyrannei zurückkehren!

Das Interview führten Felicitas Rabe und Dimana Shishkova.  Mehr zum Thema - Als erstes Land der Welt: Argentinien erlaubt Anbau von Genweizen