| Peter GötscheWiderstand gegen die Pharmamacht Stand 18.11.2015, 12:54 Uhr Sigrid Lauff, Frank Wittig Die Pharmaindustrie ist reich und mächtig. Trotzdem gibt es Menschen, die sich nicht scheuen, Missstände im System zu benennen. odysso stellt zwei "Helden" vor, die sich Bad Pharma entgegenstellen. Flughafen Dublin, ein Dienstag im Oktober. Ankunft des bekanntesten Pharmakritikers Europas. Peter Götzsche ist Professor für Klinische Studien an der Uniklinik Copenhagen, leitet ein unabhängiges Institut zur Bewertung von pharmazeutischen Studien. Er hat über 70 Veröffentlichungen in den fünf größten Fachmagazinen für Medizin. Seine Arbeiten wurden mehr als 15.000-mal zitiert. Und er ist ein echter Überzeugungstäter. Neben seiner wissenschaftlichen pharma-kritischen Arbeit ist er in der ganzen Welt unterwegs, um Aufklärungsarbeit zu betreiben. Auf die Frage, warum er sich so engagiert, liefert Peter Götzsche eine drastische Antwort: "Ich möchte die Leute darauf hinweisen, dass Medikamente die dritthäufigste Todesursache sind. Nach Herz-Kreislauf-Krankheiten und Krebs. Die Leute wissen nicht, wie gefährlich unsere Medikamente sind." Dritthäufigste Todesursache Letzte Woche sprach er in Mumbai auf dem Weltkongress für evidenzbasierte Medizin, hielt gestern in Krakau einen Vortrag über gefährliche Pharmazie. Heute folgt Peter Götzsche einer Einladung der Dubliner Universität. Seine Beispiele für Medikamente mit tödlichen Nebenwirkungen haben schwindelerregende Dimensionen. Wie etwa das vor fünf Jahren vom Markt genommene Rheumamittel Vioxx: "Ich habe berechnet, dass Vioxx 125.000 Leute umgebracht hat. Wir haben auch Psychopharmaka. Eins der populärsten ist Olanzapin (Zyprexa), das zum Beispiel bei Schizophrenie verschrieben wird. Nach meinen Schätzungen hat allein dieses Medikament 200.000 Leute umgebracht." Peter Götzsche, der seine Karriere vor 40 Jahren als Außendienstmitarbeiter beim schwedischen Pharmaunternehmen Astra begann, sagt, dass die Pharmaindustrie die Öffentlichkeit mit falschen Informationen in die Irre führt. Pharmazeutische Studien, die nicht die gewünschten Ergebnisse erbringen, würden geheim gehalten oder manipuliert. Insidern sei das längst bekannt. Aber es müsse endlich ein Thema werden, das breit in der Öffentlichkeit diskutiert wird. "Ich wundere mich, dass das kein öffentliches Thema ist, wenn wir so viele Leute mit Arzneien umbringen. Wenn ein neues Virus nur einen Bruchteil dieser Leute umbringen würde, würden wir uns sehr anstrengen, um das Virus zu bekämpfen. Aber wenn es sich um Medikamente handelt, tun wir praktisch nichts. Der Grund dafür ist, dass die Pharmaindustrie unglaublich mächtig ist und reich und weite Bereiche unserer Gesellschaft korrumpiert hat." Patientinnen sind gestorben Gudrun Kemper aus Berlin stellt sich diese Frage ebenfalls. Sie hat sehr persönliche Erfahrungen mit der Pharmaindustrie gemacht. Als Patientin. Bei der Bibliothekarin aus Berlin wurde vor 14 Jahren Brustkrebs festgestellt. Heute engagiert sie sich gegen fragwürdige Methoden der Pharmaindustrie. In ihrer Todesangst zu Beginn der Krankheit fühlte sie sich der Medizin völlig ausgeliefert Trotzdem war sie schon damals skeptisch. Empfohlene Hormon-Präparate lehnte sie ab. "Die Daten haben dann später gezeigt, dass unter diesem Medikament doppelt so viele Patientinnen gestorben sind. Einige Frauen in meinem Umfeld haben sich solche Medikamente verordnen lassen. Zum Teil mit dramatischen Folgen." Auch an medizinischen Studien sollte sie teilnehmen. Nachteile? Angeblich keine. Doch sie blieb kritisch und suchte eigenständig nach Informationen. Bis heute. "Mein Vertrauen ist einfach erschüttert. Mir ist es wichtig, dass ich kritisch von Ärzten informiert werde. Dass Vor- und Nachteile in einer Relation stehen, die rational begründet ist." Klare Regeln für die Zusammenarbeit Ein Mann im Anzug sitzt in einem Raum mit vielen Büchern und gestikuliert mit seinen Händen. (Foto: SWR, SWR -) Prof. Klaus Lieb: Als Mediziner ist die Unabhängigkeit am wichtigsten Dass seine Patienten ihm nicht mehr vertrauen könnten, hat er zu Beginn seiner Karriere nicht für möglich gehalten. Schon im Medizin-Studium bekam Klaus Lieb Bildungsreisen und Bücher von der Pharmaindustrie bezahlt. Später hielt er Vorträge, die von Arzneimittelherstellern gesponsert wurden. Zudem empfahl er Medikamente, die er gar nicht für die besten hielt. Heute sieht er das sehr kritisch: "Für jeden Arzt sollte nach dem hippokratischen Eid das Primärinteresse der Patient sein. In diesem ja Vertrauensverhältnis dürfen keine sekundären Interessen eine Rolle spielen. Das ist mir in der langen Arbeit mit Patienten deutlich geworden, aber auch in den Kontakten mit pharmazeutischen Unternehmen, die versuchen, auf dieses Vertrauensverhältnis Einfluss zu nehmen." Der Chef der psychiatrischen Uniklinik Mainz hat deshalb ganz klare Regeln für den Umgang mit der Pharmaindustrie eingeführt. Für ihn ist die Unabhängigkeit als Mediziner am wichtigsten: In seiner Klinik werden weder Sponsorings für Fortbildungsveranstaltungen angenommen bzw. keine Berater-Verträge mit der Pharmaindustrie abgeschlossen. Bis vor 10 Jahren hat Klaus Lieb eng mit der Pharmaindustrie zusammengearbeitet. Doch dann hatte er ein Schlüsselerlebnis. Er war auf einer gesponserten Pharma-Reise in Asien: "Ich wurde fotografiert auf einer Rikscha sitzend mit einer Pharmareferentin an der Seite. Eine alte Dame zog diese Rikscha. Und das war für mich ein Schlüsselerlebnis, denn mir fiel auf: Alles was wir hier machen: Feiern, Vergünstigungen, die wir haben usw., finden auf den Schultern des Patienten statt." Ab da veränderte Klaus Lieb seine Verbindung zur Industrie. Das Studienzentrum seiner Klinik arbeitet immer noch mit Pharma-Herstellern zusammen. Doch die Studien müssen von unabhängigen Gremien genehmigt werden. Außerdem forscht die Gruppe um Klaus Lieb zu Interessenkonflikten bei Ärzten. Ziel ist es, die Missstände in der Behandlung von Patienten mit harten Zahlen zu belegen. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Forschung zu Interessenkonflikten "Der Einfluss der Industrie ist häufig an vielen Stellen sehr subtil. Das führt dann dazu, dass viele Ärzte sich dieser Beeinflussung gar nicht richtig bewusst sind. Sie haben einen blinden Fleck dafür."Weitere Untersuchungen zeigten, dass gesponserte Fortbildung das Verordnungsverhalten der Ärzte verändert. Deshalb gründete Klaus Lieb mit Kollegen die Ärztegruppe MEZIS. Das bedeutet "Mein Essen Zahl Ich Selbst". Wer zu den MEZIS gehört demonstriert damit, dass er unbestechlich ist. Dass die Patienten somit auf eine unbeeinflusste ärztliche Beratung vertrauen können. Auch als Hochschullehrer macht Klaus Lieb sich stark für objektive Wissenschaft. Deshalb wurde er 2012 zum Hochschullehrer des Jahres gewählt. In seinen Augen brauchen Forscher die Pharmaindustrie. Doch er plädiert für klare und transparente Regeln in der Zusammenarbeit. "Wir brauchen in der Forschung auch unabhängige wissenschaftliche Gremien, die sagen, wo Forschungsbedarf besteht. Dass eben nicht nur dort geforscht wird, wo sich ein Unternehmen einen besonders großen Markt erhofft. Wir haben zum Beispiel im Bereich der Antidepressiva viele Neuentwicklungen, die wir gar nicht brauchen. Dafür haben wir in anderen Krankheitsbildern keine wirksamen Medikamente." Objektive wissenschaftliche Zahlen generieren Portrait eines Mannes auf der Rückbank im Auto während der Fahrt. (Foto: SWR, SWR -) Prof. Peter Götzsche - Leiter des Cochrane-Netzwerkes in Kopenhagen Klaus Lieb ist auch für den deutschen Ableger der Cochrane Gesellschaft im Einsatz. Ziel dieses internationalen Netzwerks ist es, objektive wissenschaftliche Zahlen zu Medikamentenstudien zu generieren. Den dänischen Ableger von Cochrane gründete Peter Götzsche in Kopenhagen. Der hat gerade ein Buch in Deutschland veröffentlicht. Es trägt den Titel: "Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität - Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert". Wir wollen von dem Pharmakritiker wissen, wie sich das anfühlt, sich als Kritiker mit einer so mächtigen Gegnerin wie der Pharmaindustrie anzulegen? Seine Antwort ist sehr sachorientiert: "Ich denke nicht groß nach darüber, wie sich das anfühlt. Ich habe den Leuten etwas Wichtiges zu erzählen. Und die sind sehr interessiert daran, Fakten über Arzneimittel zu hören. So bekomme ich Einladungen nicht nur aus Europa sondern auch aus Amerika und Australien. Für Vorträge und um die Leute dort zu informieren." In seinem heutigen Vortrag am Institut für Psychologie an der Dubliner Universität geht es auch darum, wie die Industrie gefährliche Nebenwirkungen von Psychopharmaka vertuscht. So führte ein Mittel gegen Depression zur Steigerung der Selbstmordversuche. Götzsche erklärt dem Publikum in dem überfüllten Raum: "Eli Lilly hat seine Mitarbeiter angewiesen nicht von Selbstmordversuchen zu sprechen. Sie sollten von Krankenhauseinweisungen sprechen, von emotionaler Labilität, fehlender Wirkung, Depression - was auch immer aber nicht von suizidalem Verhalten." Tödliche Nebenwirkungen vertuscht In einem Gerichtsverfahren waren diese Informationen an den Tag gekommen. Dasselbe Medikament aus der Klasse der selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI) sei besonders auch für ältere Personen gefährlich, sagt Götzsche: "Man fand, dass diese Medikamente gefährlich sind, weil sie zu Stürzen führen. Für je 28 ältere Leute, die damit behandelt wurden, gab es einen zusätzlichen Todesfall. Eine unglaublich hohe Todesrate." Der anhaltende Applaus des Dubliner Publikums ist eindeutig: Peter Götzsches Kritik an der Pharmaindustrie hält man hier für berechtigt. Und für wichtig. Im kleinen Kreis haben die Zuhörer die Möglichkeit, nachzufragen. Und dann steht der profilierteste Pharmakritiker Europas auch noch zur Verfügung für ein Erinnerungsfoto. Heute Abend wird Peter Götzsche in Dublin einen weiteren Vortrag zum Thema halten. Auch da wird der Saal bis auf den letzten Platz besetzt sein. Auch Selbsthilfegruppen sind betroffen Das Interesse am Thema ist groß. Betroffene wollen objektive Aufklärung. Was schadet, was nutzt der Gesundheit? Gudrun Kemper kennt den Wunsch nach kritischen Informationen. Deshalb hat sie sich auch in Selbsthilfegruppen engagiert. Doch sie stellte fest, dass hier ebenfalls Pharmafirmen als Sponsoren auftraten. Veranstaltungen für Patienten wurden dann plötzlich zur Werbe-Plattform. Deshalb hat sie mit Gleichgesinnten eine eigene Selbsthilfegruppe nach kanadischem Vorbild gegründet: Breast Cancer Action. Die Vereinigung garantiert eine kritische Haltung in punkto Pharmaindustrie. Es geht darum, Frauen mit fundierten Informationen zu helfen, eigenständige Entscheidungen für ihre Gesundheit zu fällen. Besonderes Kennzeichen: Kein Pharma-Sponsoring. "Patientinnen, die sich an Selbsthilfe wenden, brauchen auch sichere und unabhängige Strukturen. Es kann nicht sein, dass durch die Hintertür dann doch Konzerninteressen mit eine Rolle spielen und auf die Patientinnen übertragen werden. Das ist ein gefährlicher Weg, der da eingeschlagen wird, und wir können davor nur warnen." Warnen, sensibilisieren, mit unabhängigen Informationen aufklären - diese drei haben sich auf den Weg gemacht, die Schattenseiten der Pharmabranche auszuleuchten. Ein steiniger Weg - zu dem es keine Alternative gibt. Den habe ich mir zum Vorbild gemacht, auf www.peter-gesundheit.com SWR.DE Widerstand gegen die Pharmamacht
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